Flashback Franck Biancheri 2008: Frieden in Europa = EU + Sozialsysteme

- 25/02/2015

"Warum haben die Europäer denn seit sechzig Jahren ihre traditionellen Bürgerkriege vermieden? Weil wir Europa aufgebaut haben und über soziale Sicherungssysteme für große Bevölkerungsschichten verfügen."



Flashback Franck Biancheri 2008: Frieden in Europa = EU + Sozialsysteme
In dieser Zeit der sich verschärfenden globalen wirtschaftlichen und sozialen Krise, in einem Moment, in dem die französischen Eliten sich in einem amerikanistischen [1], ultra-liberalen Modell suhlen, das jenseits des Atlantiks [2] gerade in sich zusammenfällt, wollen wir an eine fundamentale Gleichung erinnern und daran, dass die heutige Generation der europäischen Politiker und Manager ein Element der Gleichung offensichtlich ignoriert: Warum haben die Europäer denn seit sechzig Jahren ihre traditionellen Bürgerkriege vermieden? Weil wir  Europa aufgebaut haben und über soziale Sicherungssysteme für große Bevölkerungsschichten verfügen.
 
Mit den anderen Komponenten, also dem Frieden und der EU, haben die Politiker und Manager kein Problem. Der Glaube ist gut verankert und der Slogan wird bei jedem x-beliebigen europäischen Politik-Ereignis endlos wiederholt: Bei der Volksabstimmung über die Europäische Verfassung, beim Jahrestag der EU-Gründung, … in der Werbung der Kommission. „Europa bedeutet Frieden“ wird sogar auf Plakaten proklamiert [3]. Unsere jetzigen, nationalstaatlich ausgerichteten Eliten verstehen nichts vom europäischen Projekt, aber sie haben wenigstens diese grundlegende Idee, die ihnen von der Generation ihrer Eltern beigebracht wurde, in ihre Vorstellungswelt integriert.
 
Aber was den Rest der Gleichung anbelangt, nämlich die Sozialsysteme, da haben sie offensichtlich alles vergessen.
 
Man muss kein ausgewiesener Fachmann für europäische Geschichte sein, um zu wissen, dass die auf alle Bevölkerungsteile ausgeweiteten sozialen Sicherungssysteme in Europa nach dem zweiten Weltkrieg [4] eingeführt wurden. Die drei grundlegenden Prinzipien, auf die sich die europäischen Systeme stützen (auch wenn sie sich im Einzelnen unterscheiden), sind Allgemeingültigkeit, Einheitlichkeit und Gleichheit. Und es ist kein Zufall, dass die "Erfindung" dieser modernen sozialen Absicherung der längsten Periode des Friedens und des Wohlstands auf dem europäischen Kontinent entspricht. In der Tat hat der Aufstieg des Faschismus in den dreißiger Jahren beleuchtet, welche ernste Gefahr für die Demokratie und den Friedens die Millionen von Armen darstellen, arbeitslos und ohne Einkommen, eine leichte Beute für Diktatoren und fremdenfeindliche und ultranationalistische Ideologien. Die Implementierung der sozialen Sicherungssysteme war für die  Staats- und Regierungschefs der Nachkriegszeit nicht nur ein moralisches und soziales Gebot, sondern auch ein Mittel, den zukünftigen Hitler, Mussolini, Petain, … den politischen Nährboden zu entziehen.
 
Also, im Gegensatz zu den Schmalspurideen, die unsere armseligen europäischen Eliten seit zwei Jahrzehnten eins zu eins und unreflektiert aus den Washingtoner Denkfabriken abkupfern: Für die Bewahrung des Friedens in Europa sind unsere allgemeinen sozialen Sicherungssysteme genauso wichtig wie der Prozess der europäischen Integration. 
 
Damit will ich natürlich nicht sagen, dass die sozialen Sicherungssysteme in Europa nicht angepasst und umgestaltet werden müssen. Ganz im Gegenteil: Sie müssen in der Tat verbessert werden, um sie kompatibel mit der europäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu machen. Aber dafür brauchen wir einen Einstein, der die grundlegenden von Newton entdeckten Prinzipien der Schwerkraft erweitert und entwickelt, und nicht einen Attila, der „tabula rasa“ mit allem macht, was er auf seinem Weg vorfindet. Die Ideologie der amerikanischen Konservativen, das ist Attila, nicht Einstein.
 
Dafür genügt ein Blick auf die Ergebnisse von fünfundzwanzig Jahren Erfahrung mit der ultra-liberalen Ideologie der amerikanischen Rechten:
 
- soziale Unterschiede wie in Ländern der dritten Welt
- ein Drittel der Amerikaner ohne soziale Absicherung (und der Anteil steigt)
- eine im Vergleich zu den anderen Industrieländern rückläufige Lebenserwartung
- die pro Kopf der Bevölkerung weltweit höchsten Gesundheitsausgaben (also verschwendet das amerikanistische Modell noch mehr Geld als die europäischen Systeme)
- ein zusammenbrechendes Bildungssystem.
 
Für diesen Artikel breche ich hier ab, den es geht hier nicht darum, die Autopsie des „sozio-ökonomischen Amerikanismus“ vorzunehmen.
 
Die Grundsätze, die 1945 als Grundlage für die europäischen Sozialsysteme festgelegt wurden (Allgemeingültigkeit, Einheitlichkeit und Gleichheit), sind immer noch aktuell, da sie ein kohärentes System definieren: jeder profitiert von ihm, jeder sitzt im gleichen „Boot“ und jeder bekommt etwas genauso wie sein Kollege. Auf der anderen Seite ist es notwendig, in die vorhandenen Systeme neue Dimensionen und neue Methoden zu integrieren. Individuelle Leistungen und Beiträge sind jetzt realisierbar mit den neuen Informationstechnologien, wobei die drei Grundprinzipien respektiert werden müssen. Eine größere Selbstverantwortung der Akteure des Systems ist möglich, da die jetzigen und kommenden Generationen besser sozial-ökonomisch ausgebildet sind. Das  Zusammenspiel und die Bewertung der verschiedenen Systemteile sind jetzt machbar unter Einbeziehung der Nutznießer und der Leistungsträger.
 
Schließlich wird die europäische Solidarität, als sozio-ökonomische Konsequenz des Euro, die nächste Dimension sein, die in das europäische System der nationalen sozialen Sicherungssysteme integriert werden muss. Dies ist im Übrigen ein Bestandteil des sozio-ökonomischen Programms, das kürzlich von den Newropeans-Mitgliedern verabschiedet wurde.
 
Weitere Entwicklungen sind zweifellos notwendig. Aber auf jeden Fall müssen wir Europäer uns vergegenwärtigen, dass die Zauberlehrlinge, die uns das amerikanistische Scheitern als Vorbild anpreisen, nicht wahrhaben wollen, dass die Zerschlagung unserer sozialen Sicherungssysteme europäischer Prägung direkt zum unaufhaltsamen Aufstieg der Enkel von Hitler, Petain, Franco, Mussolini und Stalin führen wird. Industriekapitäne und Generäle lieben die Armeen der Armen, die nichts zu verlieren haben! Sie sind fügsam und ohne Prinzipien.
 
Franck Biancheri (24. 1. 2008)
Präsident von Newropeans
 
[1] Vgl. zu diesem Thema meinen Artikel im Newropeans Magazin: Europe: La trahison des élites - Les Américanistes sont les pires amis des Américains
 
[2] Es genügt den empörenden Bericht der Attali-Kommission zu lesen (benannt nach dem ehemaligen Wirtschaftsberater von Francois Mitterand, Jacques Attali, dem von Nicolas Sarkozy die Aufgabe übertragen wurde, einen Aktionsplan zur "Befreiung des Wachstums" zu erstellen; Anmerkung des Übersetzers), eine Zusammenstellung von Maßnahmen inspiriert von einer perfekten amerikanistischen Vision der Gesellschaft:  Kein Wort über Europa, Angriff nach allen Regeln der Kunst auf die Systeme der sozialen und lokalen Solidarität, eine Paris-zentrierte Vision der Dinge, Parteiergreifung für die Interessen der großen Einzelhandelsketten- oder Franchiseunternehmen, Reduzierung des Bürgers zum Verbraucher, … und ein Loblied auf das „Wachstum“, eine Art Gottheit, der man Geschichte, Kultur und Recht auf politische Teilhabe opfern muss. Es ist auf jeden Fall das perfekte Rezept, um ein „subprime Frankreich“ zu erzeugen, so wie man bereits jetzt „subprime Vereinigte Staaten“ hat, Länder, in denen sich die Zustände an die Dritte Welt annähern, mit einer ultra-reichen Minderheit, einer schrumpfenden Mittelschicht und einer breiten Klasse der Armen.
 
[3] Siehe die folgenden Artikel: 1936: Der Nationalsozialismus bringt den Frieden; 1956: Kommunismus ist Frieden; 2006: Europa schafft Frieden (NM 6/10/2006) & Europe 2009: Quand les petits-fils d’Hitler, de Pétain, de Franco et de Mussolini prendront pouvoir (NM 10/5/2007)
http://www.newropeans-magazine.org/content/view/4683/309/      
http://www.newropeans-magazine.org/index.php?option=com_content&task=view&id=5714&Itemid=84
 
[4] Eingeführt von Bismarck in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts um den Einfluss der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen zu bekämpfen, wurde das System in seiner modernen Form im Vereinigten Königreich von William Beveridge zu Beginn der vierziger Jahre formalisiert, gestützt auf die drei Schlüsselprinzipien Allgemeingültigkeit, Einheitlichkeit, Gleichheit. Vergleichbare Systeme wurden in ganz Europa nach 1945 eingeführt.