Offener Brief an die europäische Führung: Nur ein europäischer demokratischer Umsturz kann den durch Großbritannien ausgelösten Staatenstreich verhindern - Für eine erste wirklich transeuropäische Wahl

Kollektiv des Franck Biancheri Netzwerks - 25/07/2016



Offener Brief an die europäische Führung: Nur ein europäischer demokratischer Umsturz kann den durch Großbritannien ausgelösten Staatenstreich verhindern - Für eine erste wirklich transeuropäische Wahl
Sehr geehrte Damen und Herren in der Führung Europas,

Wir verstehen es jetzt alle: der Brexit wird nicht zu einem Austritt aus der EU führen. Vielmehr provoziert er eine Lähmung des europäischen Entscheidungssystems und dient einer Strategie der politischen Übernahme der EU, die nichts mit Demokratie, aber alles mit einem "coup d'états" (Staatenstreich) zu tun hat.

Tatsache ist, dass in der umwälzenden Krise, in der sich die Welt und die EU seit fast 10 Jahren befindet, die schwache Führung durch die europäische Technokratie nicht mehr ausreicht.

Aber das europäische Modell, das uns der „Brexit“ bringen wird, das ist das national-europäische Europa, dessen Errichtung Franck Biancheri1 ankündigte für den Fall, dass es der EU nicht gelingen würde, ihr Entscheidungssystem durch eine transeuropäische Demokratie zu verankern; das ist das Europa der „Enkel von Hitler, Pétain, Mussolini, Franco“ seines berühmten visionären Artikels aus dem Jahr 19982 .

Nachdem die europäische Administration 2015 unerbittlich war mit der euro-reformistischen Linken, vertreten durch das Griechenland von Tsipras, wird sie demnächst gezwungen sein, sich dem politischen Willen der europäischen nationalistischen Regierungen, die 2017 koalieren könnten, zu unterwerfen.

Auf diese Weise wird nicht der Tod der EU besiegelt werden sondern der ihrer Werte, Prinzipien und Gründungsziele, wegen denen wir die europäische Integration seit 60 Jahren unterstützt haben: Frieden, Unabhängigkeit, Demokratie und gemeinsamer Wohlstand. 

   

Sehr geehrte Damen und Herren in der Führung Europas,

Die Demokratisierung des europäischen Projekts ist jetzt eine Aufgabe von erstrangiger Bedeutung: es handelt sich darum, die Bürger aus ihren nationalstaatlichen Gefängnissen zu befreien, europäische Horizonte für ihre politischen Hoffnungen zu öffnen und damit die Bedingungen für einen „europäischen demokratischen Umsturz“ zu schaffen.

 

Änderung der Denkweise

 . Dafür müssen wir anerkennen, dass die Europäische Union eine politische Konstruktion ist. Und wenn man das anerkennt, dann wird ihre Demokratisierung nicht nur denkbar, sondern auch zwingend.

. Und dann müssen wir feststellen, dass durch die Wahlen zum Europäischen Parlament die großen politischen Orientationen unseres Kontinents nicht wirklich validiert werden: aus dieser Ansammlung von nationalen Wahlen ist noch nie eine europäische Debatte entstanden. Und wenn die EU das anerkennt, dann macht sie es möglich, etwas Überzeugenderes in Bezug auf die europäische Demokratie zu erfinden.

. Und was Volksabstimmungen betrifft: es muss damit aufgehört werden, die Bürger zu fragen, ob sie für oder gegen Europa sind! Die europäische Integration läuft jetzt schon seit 60 Jahren ab. Man fragt einen Fisch nicht, ob er für oder gegen das Wasser ist, ohne ihn in den Wahnsinn oder den Selbstmord zu treiben. 

Sauerstoff für die politischen Debatten des Kontinents

Stattdessen ist es jetzt höchste Zeit, die Europäer zu fragen, was sie von Europa wollen:

. Wie könnte Europa die Rückkehr des sozialen Friedens in den verschiedenen Ländern der EU ermöglichen?

. Wie könnte Europa dazu beitragen, das Geld für die Finanzierung der Infrastrukturen, Krankenhäuser, Schulen …, die einst der Stolz unseres Kontinents waren, bereitzustellen?

. Wie könnte Europa die Wirtschaft auf eine Art und Weise, von der alle Europäer etwas haben, ankurbeln?

. Wie könnte Europa die Energiewende beschleunigen und neue nachhaltige Wirtschaftsmodelle erfinden?

. Wie könnte Europa ein für alle mal seine geographischen Grenzen definieren und sie schützen ohne sich in eine Festung einzuschließen?

. Wie könnte Europa seine Beziehungen mit seinen großen russischen, türkischen und amerikanischen Nachbarn befrieden … ohne vor einem von ihnen auf die Knie zu fallen?

. Wie könnte Europa positiv zur Verringerung der immensen globalen geopolitischen Spannungen beitragen?
… 

Den europäischen Bürgern europäische Fragen stellen

Wie in jeder Demokratie müssen die Bedingungen cafür geschaffen werden, dass verschiedene Visionen ausgedrückt werden und dass die Bürger zwischen ihnen wählen können.

Die Demokratie ist keine Sprache von Ja/Nein. Wenn man diesen Punkt anerkennt, dann kann man auch die Bedingungen für eine echte konstruktive und bereichernde Debatte schaffen, eine Debatte, bei der die Bürger etwas lernen … und auch ihre Führungen, und die der derzeitigen Bewegung eine neue Richtung gibt.

Ein „europäischer demokratischer Umsturz“, das ist „ganz einfach“ eine europäische Wahl, und zwar eine echte, in der die Visionen für Europa gegeneinander antreten – anstelle der Ziele der Parteien der Nationalstaaten, aus denen Europa besteht, eine Wahl, die die Bürger der verschiedenen Staaten zu einer gemeinsamen Debatte und einer gemeinsamen Durchführung einlädt (einheitliche Wahlkreise, transeuropäische Listen und Programme vertreten durch multinationale Teams, gemeinsamer Wahlkampf, identische Gewicht für jede Stimme).

„Es erscheint immer unmöglich, bis es jemand getan hat.“3

Wenn man es will, dann kann man es auch.

Die 28 können sich nicht auf ein solches Projekt verständigen? Es ist ausreichend, wenn einige zentrale Länder sich über seine Abhaltung verständigen, um eine gesunde Dynamik für eine transeuropäische Debatte zu schaffen. Andere werden sich der Initiative anschließen. Schließlich ist die EU ein Raum der verstärkten Kooperation … warum nicht im Bereich der Demokratisierung.

Die Verträge verhindern es? Weil die Verträge uns verraten und wir sie hinter uns lassen müssen; die National-Europäer wollen sich ihrer sowieso bald entledigen. Und niemand wird die tödliche „Herrschaft der Verträge“ (Treatokratie) betrauern, die wir nur haben, um das Fehlen einer lebendigen politischen Gouvernance der EU zu bemänteln.

Es gibt keine politischen Parteien, die zu transeuropäischen Wahlen antreten können? Das einzige Mittel, um zu erreichen, dass sich die transeuropäischen Bewegungen, die der Kontinent für seine Demokratisierung braucht, herausbilden, besteht darin, eine transeuropäische Wahl zu organisieren. Die drei Jahrzehnte der „Erasmus Generationen“ sind seit langem dazu bereit, sich zu organisieren.

Sie haben kein Vertrauen in die europäischen Bürger, die möglicherweise „falsch“ abstimmen? Es sind nicht die Bürger, die falsch abstimmen, die Fragen sind falsch gestellt. Es ist hohe Zeit, den Europäern offene Europa-Fragen und nicht den Franzosen, Deutschen, Italienern geschlossene Europa-Fragen zu stellen … Das wird den Unterschied ausmachen.

In der EU gibt es nichts zu wählen? Warum lasst ihr uns nicht über eine Exekutive für Euroland4 abstimmen? Wir sind 300 Millionen, die unauflöslich (die Griechen haben es bewiesen) miteinander verbunden sind durch diese gemeinsame Währung, diesen gemeinsamen „Souverän“. Es gibt keine bessere Basis für eine politische und demokratische Union unseres Kontinents.

Sie werden in die Geschichtsbücher eingehen, aber durch welche Tür wollen sie in die Geschichte eingehen?

Heute versuchen negative Kräfte die Kontrolle des Kontinents zu übernehmen. Und in dieser tödlichen Gefahr müssen wir die Kraft und den Willen finden, um die letzte Etappe der Europäischen Integration anzustoßen. Diese ist die Demokratisierung des Kontinents, die die technokratische Maschine, deren Übernahme durch die national-europäischen Regierungen derzeit droht, wieder in die Hände ihrer wahren Nutznießer bringen muss.

Geben Sie uns die Wahlen, die wir brauchen, damit wir auch das beste geben können! Und seien Sie die ersten, die die Herausforderung der Erfindung der transnationalen Demokratie annehmen, die die ganze Welt braucht, um nicht weiter von einem Alptraum in den nächsten zu wanken.

 
Mit freundlichen Grüßen,

Das Kollektiv des Franck Biancheri Netzwerks, am 20/07/2016:


Marie-Hélène Caillol, Vorsitzende der AAFB (Association des Amis de Franck Biancheri) und Vorsitzende von LEAP (Laboratoire européen d’Anticipation Politique), Marianne Ranke-Cormier, stellvertretende Vorsitzende der AAFB, Christel Hahn, Vorsitzende von IRPA, Geta Grama-Moldovan, Verwaltungsleiterin des GEAB von LEAP, Veronique Swinkels, Leiterin von Euro-BRICS von LEAP, Pierre-Marie Pagès, Geschäftsführer von Anticipolis, Jose-Maria Compagni Morales, Direktor der LEAP Akademie



 


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1 Franck Biancheri kämpfte seit seiner Studentenzeit dreißig Jahre lang bis zu seinem Tod im Jahr 2012 für die europäische Demokratisierung und hat dabei unablässig das Scheitern des Projekts für Frieden und gemeinsamen Wohlstands, das am Ende des zweiten Weltkriegs errichtet worden war, vorhergesagt, wenn es der EU nicht gelingen würde, sich zu demokratisieren. Angesichts der offensichtlichen Richtigkeit seiner Analysen haben sich seine Freunde und Weggefährten im Franck Biancheri Netzwerk zusammengeschlossen, um seine Arbeit so lang wie möglich fortzusetzen. Dieser gemeinsam geschriebene Brief steht in dieser stolzen Linie des Denkens und Handelns.

2 Quelle: How Europe in 2009: could end up in the hands of the post modern great grandsons of Hitler, Franco, Mussolini and Petain. Franck Biancheri, 1998 (franck-biancheri.eu)

3 Nelson Mandela

4 Franck Biancheri, Europe 2020 und LEAP arbeiten seit fast zwanzig Jahren an der Idee, dass die Demokratisierung der EU über die von Euroland geht. Quelle: En route vers un nouveau cadre opérationnel et « souverain » pour l’Europe : Euroland, LEAP , 12/02/2014